1986, Galerie Dr. Przerwa-Weitzsäcker
Ausstellung in der Galerie Dr. Przerwa-Weitzsäcker in Stuttgart, 1986.
Reinhard Döhl: Rede zur Vernissage am 14. Juni 1986
Die heutige Ausstellung zeigt Arbeiten der letzten Jahre, zu deren Verständnis aber nützlich ist, sich die Entwicklung der Künstlerin seit Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre ein wenig zu vergegenwärtigen. In einem Spannungsfeld zwischen scheinbar naiver Malerei und einer pittura metafisica, ästhetisierter Technik und ökologischer Klage sind ihre Arbeiten Fehldeutungen ausgesetzt, haben zu beachtlichen Mißverständnissen geführt. Mustert man die bisher vorliegenden Einführungen und kritischen Auseinandersetzungen, speziell die Versuche, Verwandtschaften aufzudecken, Bezüge zu den Bildern Konrad Klapphecks, René Magrittes oder der Maschinenwelt Jean Tinguelys herzustellen, das Vegetative vor allem der früheren Arbeiten aus dem ornamentalen Jugendstil herzuleiten, so verstellen sie eher den Blick auf die Kunst Ursula Laquay-IHMs, als daß sie sie erklären helfen.
Ursula Laquay-IHM macht es dem allerdings Betrachter auch nur auf den ersten Blick leicht, wenn sie, wie im heutigen Fall eine scheinbar helle, freundliche Ausstellung präsentiert mit Arbeiten, von denen auf den zweiten Blick leichter sagen ist, was sie nicht sind als was sie sind. So sind z.B. die hier ausgestellten früheren Zeichnungen, die aktuellen Material-Bilder und Objektkästen keinesfalls Nachklang von Dadaismus oder Surrealismus in der oppositionellen Schönheit einer zufälligen Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Operationstisch des Künstlers. Sie bieten weder Aussichten in die Märchenwelt der Maschinen noch Einsichten in die magische Macht der Apparate. Sie sind so wenig ein bildnerischer Beitrag zur aktuellen Diskussion der Umweltzerstörung wie sie ein optimistisches und bejahendes Verhältnis zu Technik und Natur spiegeln. Sie lassen sich weder von den unbelehrbaren Apologeten des technischen Fortschritts für immer mehr Lebensqualität noch von den ökologischen Aussteigern für ihre Schäferspiele reklamieren.
Dieses Weder-Noch, dieses Spannungsfeld zwischen Technik und Natur, naiver Malerei und pittura metafisica weist - positiv gewendet - die Zeichnungen, Materialbilder und Objektkästen Ursula Laquay-IHMs zunehmend als eine Kunst zwischen den gängigen Stilen und Tendenzen, als eine Kunst des Dazwischen, der Zwischenräume aus, als einen sehr privaten und subjektiven Reflex auf Bedrängendes und Bedrohliches, aber auch auf subjektive Gefährdung, der Ursula Laquay-IHM mit allen Mitteln ihrer Kunst zu begegnen versucht.
Daß sich auf Arbeiten zwei heterogene Welten begegnen, wird bereits auf den ersten Blick ersichtlich. Die ausgesprochen indexikalischen Bildtitel geben weitere Verständnishilfe. Technische Zivilisation auf der einen und Natur/Landschaft auf der anderen Seite sind auf zumeist merkwürdige Weise verquickt, so als könne das eine nicht ohne das andere existieren. Gleichzeitig erscheinen Natur/Landschaft und technische Zivilisation in diesem Wechselspiel und Bezugssystem auf einzelne, zumeist funktionslose Bestandteile reduziert, ist, was sich auf den ersten Blick hoffnungsvoll gibt, bei genauerem Hinsehen hoffnungslos aneinander gekettet.
Eine reduzierte, eine inkomplette Bildwelt also aus Apparat und Maschine, Natur und Landschaft. Die Reduktion auf beiden Seiten läßt vermuten, daß es Ursula Laquay-IHM bei ihren Zeichnungen und Materialbildern nicht darum geht, das eine gegen das andere auszuspielen, der Natur gegenüber der Maschine, der technischen Zivilisation gegenüber der Landschaft den Vorzug zu geben vice versa. Als ästhetische Projektion stehen vielmehr die beiden Bestandteile ihrer Bild- und Bilderwelt in ihrer Kombination und Kontamination für die (im Sinne Albert Camus') absurde Hoffnung eines im absurden Kompromiß möglichen Lebens und Überlebens. Das scheint naiv, wenn man es mit der gegenwärtigen Realität vergleicht. Doch darf man nicht übersehen, daß Landschaft/Natur nur in reduziertester Form erscheinen, ihre Gefährdung im Bild stets gegenwärtig ist; daß Maschine und Apparat ins schöne Fragment entfunktionalisiert sind, statt ihrer eigentlichen technischen nurmehr eine ästhetische Funktion wahrnehmen.
Ursula Laquay-IHM hat mit mehr Optimismus, als die hier ausgestellten Arbeiten erkennen lassen, noch 1981 anläßlich einer Ausstellung in der Gedok-Galerie auf die ästhetische Seite technischer Zivilisation verwiesen, in dem sie Norbert Huses Verwunderung darüber zitierte, daß Corbusier "eine hydraulische Bremse" kommentiert habe, "als sei sie ein Kunstwerk". Und Ursula Laquay-IHM hat mit einem ergänzenden Corbusier-Zitat deutlich gemacht, daß es sich bei ihrer Kunst nicht um die curiöse Kombination heterogener Elemente handele, sondern um so etwas wie ästhetische Denkanstöße, besser vielleicht noch: Denkanstöße mit ästhetischen Mitteln. "Die Kunst von Morgen", zitiert sie nämlich Le Corbusier, "Die Kunst von Morgen wird eine Kunst des Denkens sein" - eine Überzeugung, die wie die jetzige Ausstellung zeigt - zu einem Nachdenken darüber geworden ist, ob es dieses Morgen überhaupt noch geben wird. Dieser Schritt von einer prognostizierten "Kunst des Denkens" als einer "Kunst von Morgen" zum Nachdenken über ein fragwürdig gewordenes Morgen mit den Mitteln der Kunst hat biographische und aktuelle Gründe. Die aktuellen Gründe bedürfen keiner Aufzählung, die biographischen habe ich hier, soweit die ausgestellten Arbeiten sie dem Betrachter nicht selbst frei geben, nicht zu erörtern. Stichwortartig hinweisen möchte ich dagegen auf einige Arbeiten und Bildelemente, denen sich dieser Wechsel deutlich ab1esen 1äßt. Ferner möchte ich aus diesen Hinweisen interpretatorisch einige Folgerungen ziehen.
Ich beginne meine Hinweise mit zwei Arbeiten, die Ihnen als Abbildung zur Verfügung stehen: die Zeichnungen "Haselkeimblatt" und "Ginkgoblatt". Von ihnen gehört das "Haselkeimblatt" einer Pflanze an, deren Früchte seit der Antike als Nahrungs- und Arzneimittel dienen. Im Volks- und Aberglauben (und hier verweise ich unter anderem auf das Haselreis, das Aschenputtel sich im Grimmschen Märchen von ihrem Vater erbittet und auf das Grab ihrer Mutter pflanzt) - im Volks- und Aberglauben sind Hasel, Haselstrauch zugleich Sinnbild der Lebenskraft und werden derart nicht nur für Wünschelruten, sondern auch als Mittel gegen Zauberei und Hexerei, Blitzschlag und sogar Schlangenbiß verwendet.
Dies ergänzend ergibt sich zu "Ginkgoblatt", daß die Familie der Ginkgogewächse bereits für das Erdaltertum nachgewiesen ist in einer Artenvielfalt, von der lediglich der Ginkgobaum überlebte. Er ist zugleich der älteste rezente Baum.
Hat man derart herausgefunden, daß Haselkeim- und Ginkgoblatt Leben und Überleben signalisieren, geben die dem Adersystem der Blätter von der Künstlerin eingefügten Schläuche zu denken, die zum einen blau (Ginkgoblatt), zum anderen rot (Haselkeimblatt) der Darstellung von Aorta und Vene auf medizinisch-technischen Zeichnungen entsprechen. Drittens sei darauf hingewiesen, daß die zweiteiligen Blätter des sommergrünen Ginkggobaumes sich im Herbst gelb färben. Ich erspare mir den bildungsphiliströsen Hinweis auf das einschlägige Gedicht in Goethes "West-östlichem Divan" und mache stattdessen darauf aufmerksam, daß diese Gelbfärbung als Hinweis deutlich nicht nur in der Zeichnung "Ginkgoblatt" enthalten ist, sondern auch in der Zeichnung "Haselkeimblatt" durch den Hintergrund einer gelblich. Gefärbten wüstenähnlichen Landschaft korrespondierend gegeben wird.
Rolle und Bedeutung des Herbstes im Rhythmus der Jahreszeiten bedürfen keiner ausführlichen Erörterung. Es ist die Zeit, in der sich die Blätter färben um dann abzufallen, die Zeit der Reife und des Sterbens. der die Zeit der Erstarrung, des Winters folgt. Genau hier scheint mir aber in den letztjährigen Arbeiten Ursula Laquay-IHMs eine Verlagerung in Richtung des Winters stattgefunden zu haben, ablesbar etwa an einer auffälligen Vorliebe, auch Dominanz des Weißen, oder - beim Schritt von der Zeichnung zum Materialbild - an der auffälligen Dominanz, ja Vorliebe für ins Bild geknüllten oder drapierten weißen (gelegentlich ins Bläuliche gefärbten) Stoff.
Das Bild der Ausstellung, auf das ich hier zunächst aus bin, ist ein künstlicher Baum, künstlich, was seine Stoffkrone betrifft, und zugleich künstlich ernährt über ein Ader- und Schlauchsystem, das auf vielen Bildern, in vielen Objektkästen eine Rolle spielt. Dort, wo sie nicht zeichnerisch integriert sind sondern realiter heraushängen, überspringen Schläuche und Kabel die Grenze zwischen ästhetischer und realer Welt, stellen sie gewissermaßen die Verbindung zur Alltagswelt des Betrachters her.
Diesem Ader- und Schlauchsystem künstlicher Ernährung oft sonst nicht mehr lebensfähigen Lebens entsprechen auf vergleichbarer Ebene die der Landschaft, allgemein der Natur wiederholt applizierten Knöpfe, als seien Natur und Landschaft beliebig an- und ausschaltbar, manipulier- und im Medienverbund kanalisierbar wie das sogenannte Freizeitbedürfnis des Menschen.
Die Baumkrone aus drapiertem weißem Stoff ist zugleich geeignet, weiter in die letztjährigen Materialbilder und Objektkästen Ursula Laquay-IHMs einzudringen. Unter künstlerisch technischen Gesichtspunkten betrachtet, indem sich für die letztjährigen Arbeiten festhalten ließe, daß das, was ursprünglich Bildträger ist, die Leinwand, auffallend häufig zum Bildelement wird und hier fast ikonographische Funktion bekommt.
Fragt man nach deren Bedeutung, ließe sich eine Antwort bereits in Samuel Becketts berühmtem "Endspiel" finden, dessen Bühnenbild "ein hoch angebrachtes Fensterchen mit geschlossenen Vorhängen", "ein umgedrehtes Gemälde an der Wand", "zwei mit einem alten Bettuch verhüllte Mülleimer" und den "mit einem alten Bettuch verhüllten" Hamm in einem Sessel vorschreibt.
"Altes Linnen", lautet eine der ersten Äußerungen Hamms. Und das "Endspiel" schließt, wobei ich die Regieanweisungen mitzitiere, nach einer langen Pause: "Nein? Gut." Er zieht sein Taschentuch heraus. "Da es so gespielt wird..." er faltet das Taschentuch auseinander... " spielen wir es eben so... er faltet das Taschentuch auseinander... "und kein Wort mehr darüber..." er hat das Taschentuch auseinandergefaltet... "kein Wort mehr." Er hält das Taschentuch mit ausgestreckten Armen ausgebreitet vor sich... "Altes Linnen!" Pause. "Dich behalte ich." Er nähert das Taschentuch seinem Gesicht.
Wem dieser Kontext zu spekulativ ist, sei auf ein Bild dieser Ausstellung verwiesen, das deutlich auf Beschädigung, Vergänglichkeit, Endzeit verweist und den Titel "Nekropole" - also Totenstadt - trägt. Was auf ihm zu besichtigen ist, ist nicht der von Kunsthistorikern so beliebte Faltenwurf klassischer und klassizistischer Kunst, sondern Stoff als Bildmaterial und -element, drapiert in einem Assoziationsfeld zwischen Bett- und Leichentuch, zwischen Verband und letzter Hülle.
Resignation und Pessimismus nach dem verhaltenen Optimismus der frühen 80er Jahre? "Überall zuhause und nirgendwo sicher" hat Ursula Laquay-IHM gleich zwei ihrer letzten Arbeiten getitelt. Aber sie hat in letzter Zeit auch das Bildmaterial Stoff bzw. Leinwand, also den ursprünglichen Bildträger mit Gegenständen, die nicht sichtbar werden, sich aber unübersehbar andeuten, unterlegt und eine ihrer letzten Arbeiten "Arche Noah" genannt. Wohl kaum zufällig tritt der quer durch die "Nekropole" gelegte, sie wesentlich determinierende Stoff im Falle der "Arche Noah" fast in eine Rahmenfunktion zurück, nichts mehr verschleiernd, vielmehr den Blick auf die Arche gleichsam frei machend.
Ich sagte einleitend, daß es nützlich sei, sich die Entwicklung der Bilderwelt Ursula Laquay-IHMs über einen größeren Zeitraum gegenwärtig zu machen, und begann meinem Versuch einer Annäherung mit Hinweis auf Arbeiten Anfang der 80er Jahre. Von deren Lösung, von deren Versuch einer ästhetischen Harmonisierung dessen, was wir heute als bedrohlich (die Technik) und bedroht (die Natur) erkennen, haben sich die Arbeiten der letzten Jahre wesentlich entfernt, nicht nur technisch auf dem Weg von der Zeichnung zum Materialbild (oft mit Elementen der Zeichnung).
Interpretiert man, ausgehend von der auf der Einladungskarte wiedergegebenen Farbstiftzeichnung "Verschiedenfarbige Raritäten", die hier ausgestellten Material- und Objektbildern als Raritätenkästen oder -schreine, genügt das, was sie als Raritäten aufheben, keinesfalls dem Anspruch des seltenen oder vorzüglichen Gegenstandes und hat dennoch seine Tradition, wie ein Abraham a Sancta Clara-Zitat belegen soll. Auf dem Jahrmarkt, lese ich in "Judas der Ertzschelm" (Bd 1, S. 43) "kam mir unter die Augen eine Hütte, in welcher ein bekannter Spitalmeister feil hatte, Wunder wegen wolt ich erfahren, was doch dieser für Handelschaft führe, indem seine Waaren in lauter alte Spitallumpen eingewickelt, gar schlechte Raritäten versprachen."
Daß sich so "gar schlechte Raritäten" unter den Stoffen der Objektkästen und Bildobjekte Ursula Laquay-IHMs verbergen, möchte ich allerdings nicht anzunehmen. Dazu ist mir die "Arche Noah" ein erster Garant. Und sie ist für mich in einem archetypischen Sinne zugleich ein zweiter Garant, dann nämlich, wenn ich die "Nekropolen"-Objekte als Spiegelungen einer Reise durch die eigene Gegenwelt der Künstlerin lese, was kunstpsychologisch ohne weiteres möglich ist. In diesem Fall wäre für mich die Reihenfolge der Arbeiten von Bedeutung. Und die lautet: "Nekropole", "Überall zuhause nirgendwo sicher" - "Arche Noah". Allerdings: als eine ausgemachte Sache will mir die "Arche Noah" dennoch nicht scheinen. Dazu sind mir die Möglichkeiten, die die hier ausgestellten Arbeiten andeuten, noch zu verdeckt. "Verdeckte Möglichkeiten" heißt auch eine der Arbeiten. "Mutiert" ist ein häufig anzutreffendes Adjektiv in den Bildtiteln ("Mutierte Gottesanbeterin", "Mutierter Nachtfalter", "Octopus mutiert").
Mit Mutationen ist es aber ebenfalls so eine Sache. Je nach Standpunkt schließen sie Möglichkeiten wie Gefahren ein. Nehme ich einmal an, der menschliche Erwerb des aufrechten Ganges sei eine Folge einer positiv zu bewertenden Mutation, muß ich andererseits feststellen, daß derjenige, der heute mit Atomen und Genen herumexperimentiert, wenig Positives aus seiner Mutation gemacht hat. Das allerdings wäre nicht die schlechteste Erkenntnis für den Betrachter einer Ausstellung, deren Arbeiten auch Gegenstände zum geistigen Gebrauch sind. Sie würde zwar die Arche Noah nicht überflüssig machen. Aber möglicherweise für das Endspiel eine Verlängerung bedeuten.