Eröffnungsrede von Nina Pfeiffer M. A. zur Vernissage der Ausstellung in der Galerie im Kameralamt 2013

Liebe Frau Hoffmann, liebe Frau Laquay-IHM,

sehr geehrte Damen und Herren,

 

beginnen möchte ich meine Einführung mit einem Zitat Goethes: „Der Tod ist ein sehr mittelmäßiger Porträtmaler. Ich meinerseits will ein seelenvolleres Bild, als seine Masken, von meinen sämtlichen Freunden aufbewahren.“ Goethe begründet mit diesen Worten seinen Entschluss, sich keine Totenmaske abnehmen zu lassen. In einer Totenmaske lasse sich seiner Ansicht nach keine Seele abbilden.

 

Sabine Hoffmann setzt sich in der Folge „Über die Sterblichkeit ... hinaus“ mit Totenmasken auseinander. Inspiration zu dieser Werkfolge fand die Künstlerin 1999 in der Marbacher Ausstellung „Archiv der Gesichter“ im Schiller-Nationalmuseum Marbach, die Lebend- und Totenmasken von u. a. Dichtern, Politikern, Komponisten und Philosophen zeigte. Besonders fasziniert war Hoffmann von der „Klarheit und Rigorosität, mit der die Schädelform zu Tage tritt.“

 

Totenmasken halten den letzten Augenblick fest, halten den Tod fest, der das noch vor Kurzem Lebendige verdrängt. Eine endgültige Stille und Sprachlosigkeit sowie Blicklosigkeit scheinen die Masken zu vermitteln. Dieses Entschwinden jeglichen Lebens nimmt Sabine Hoffmann gefangen. Einigen dieser Toten widmet sie Arbeiten, so in der Ausstellung beispielsweise zu sehen, Lessing, Heine und Nietzsche. Hoffmann haucht den Toten Leben ein, indem sie ihnen Blicke gibt oder aber Handgesten hinzufügt. Die Gesichter erhalten einen neuen Zustand, werden in ein verändertes Umfeld verlagert, wodurch die aus dem Leben Geschiedenen zurück geholt werden. In unsere Zeit?

 

Hoffmann arbeitet in ihren Collagen häufig mit Transparentpapier, worauf die Toten- und Lebendmasken fotokopiert sind. Diese werden zumeist von der Rückseite überarbeitet: mit Tusche, Aquarell, Kohle, Lithokreide werden Zeichnungen hinzugefügt, aber auch Schriften eingesetzt, die oftmals seitenverkehrt erscheinen und mittels Spiegel lesbar werden.

 

In der Arbeit „Lessing lebt“ aus dem Jahr 2000 verändert Hoffmann die Totenmaske des Dichters, indem sie das Gesicht doppelt und ihm wie durch ein Röhrchen Flüssigkeit zugeführt wird – Wasser des Lebens, wodurch der verstorbene Lessing zu neuem Leben erweckt wird? „Lessing lebt!“, so die Aufschrift mit Tusche. Das Efeublatt, mit dem die Maske am oberen Bildrand ausgezeichnet wird, verstärkt als Sinnbild der Unsterblichkeit das Erwecken zum Leben.

 

In der Arbeit „Dichter und Denker“ aus dem Jahr 2004 werden die Totenmasken Heines und Nietzsches reanimiert, indem ihnen Gedanken zukommen in Form von Schriften. Von einer Maske im Vordergrund mit gezeichneten geöffneten Augen wird das Gedankengut übermittelt.

 

Ebenfalls mit dem Tod setzt sich Hoffmann in ihrer Werkserie der „Tells“ auseinander. Mit dem Titel „Tell“ verweist Hoffmann auf antike Grabungshügel, die dem Blick der Forscher frühere Besiedlungsschichten freigeben. Grabungen in Troja und Israel regten die Künstlerin dazu an, das Thema aufzugreifen und auf unsere Zeit zu übertragen. Hoffmann zeigt in der Werkreihe teilweise Massengräber, so in der Arbeit „Tell XI (Jugoslawien)“ aus dem Jahr 1998. In drei übereinanderliegenden Schichten, die durch die diversen Farbgebungen auf verschiedene Zeiten hinweisen, werden Leichen übereinandergeschichtet dargestellt. An der Oberfläche werden die Leichenberge nach und nach durch Flugsand verdeckt – unsichtbar. Geraten die Toten, die Verbrechen dadurch in Vergessenheit?

 

Die drei weiteren in der Ausstellung gezeigten Arbeiten aus der Reihe „Tell“ weisen neben der Zeichnung die Verwendung spezieller Materialen auf. So werden den Toten Hemden aus Gewebe verliehen oder aber Gaze, das zur Wundversorgung verwendet wird, aber auch als Gewebe für Totenhemden Anwendung fand.

 

In „Tell XVI“ verarbeitet Hoffmann Luftpolsterfolie zu einer Art Zelt, das mit Schnüren gespannt in der Erde fixiert und von Bäumen bewachsen ist. Es bildet selbst also einen Tell, darin begraben ein toter Körper. Das Material der Plastikfolie weicht stark von den Geweben, die in den übrigen Arbeiten verwendet werden, ab. Versetzt es das Dargestellte in eine neue Zeit oder aber verweist das schützende, wasserabweisende Material auf Sicherheit, Geborgenheit oder schirmt es den Toten endgültig von der Außenwelt ab?

 

Auch in dem Künstlerbuch „Vergessen – weiterleben! Den Frauen der Revolution gewidmet“ aus dem Jahr 1989 beschäftigt sich Hoffmann mit in Vergessenheit geratenen Toten. Es ist acht Frauen der Revolution gewidmet, die ins Gedächtnis gerufen werden sollen.

 

Das Künstlerbuch entsteht anlässlich des 200. Jahrestages der französischen Revolution und zeigt Vorschläge der Künstlerin für architektonische Veränderungen in Paris; diese sind durch farbige Überarbeitungen oder Collagen gekennzeichnet.

 

Die geplanten Installationen sollen an öffentlichen Orten verschiedener Epochen – von den römischen Thermen bis zur Villette – die Frauen der Revolution ehren. „Kaum eine der Frauen ist im Kulturgedächtnis verankert“, mahnt die Künstlerin an. Lediglich, so auch der Hinweis auf dem Blatt, „als einzige unvergessen“ Madame de Staël als achte Frau der Revolution. Diese triumphiert am Are de Triomphe – dem Denkmal napoleonischer Kriege mit flatternden blauen Flügeln als Zeichen der unbesiegbaren Lebenskraft der Frauen. Etwas von der Persönlichkeit der Frauen soll vermittelt und ein durch die Installation verändertes Stadtbild zum Nachdenken anregen. Bei den Entwürfen für die Installationen, die in der Ausstellung zu sehen sind, handelt es sich um Lithografien, Zeichnungen auf den Stein, die in der Draufsicht konstruiert wurden. Die Anmerkungen und Erläuterungen zu den acht Frauen finden sich auf den Blättern – allerdings spiegelverkehrt. Die Intention der Künstlerin ist, dass die Besucher die Schriften mithilfe eines Taschenspiegels entziffern.

 

Ein weiterer Entwurf aus dem Künstlerbuch stellt „Louison und die Marktfrauen von Paris“ dar, die vom Forum des Halles zum Protestmarsch nach Versailles aufbrachen. Die Lithografie zeigt die Stahlplastik schreitender Frauen über den Pavillons des Forum des Halles ergänzt durch ein großes rotes Schild. Farbe und Dynamik des Schildes setzt die Künstlerin in bewussten Kontrast zur Architektur.

 

Der fiktive Denkmalentwurf soll – auch in Form dieser Lithografien – dazu anregen, sich mit den Schicksalen der vielen an der Französischen Revolution beteiligten und meist vergessenen Frauen zu befassen.

 

Wie Frau Hoffmann thematisiert auch die Künstlerin Ursula Laquay-IHM in ihren Arbeiten menschliche Schicksale in Form existentieller Fragestellungen. Als Ausgangspunkt dient Laquay-IHM der Stadtraum, im Speziellen der Stadtplan, der in seiner Struktur und seinem Ordnungssystem auf das Wesen der Bewohner und die menschlichen Bedürfnisse verweist, Hinweise auf Modelle des Zusammenlebens vermittelt.

 

Ursula Laquay-IHM beschäftigt sich seit den 80er Jahren mit Themen der Architektur und Stadtplanung. In ihrer Auseinandersetzung mit Stadtmodellen geht sie der Frage nach, wie viel Raum für welche Bedürfnisse zur Verfügung gestellt wird, und ob gebührend auf die Bedürfnisse des Menschen eingegangen wird. Sie hinterfragt die Intentionen von Stadtplanern und versucht ein Bild des Menschen zu formen, das diesen Planungen zugrunde liegt. Im Studium von Stadtplänen erhofft sich die Künstlerin Antworten auf jene Fragen.

 

Durch präzises Abzeichnen der Stadtpläne werden Ordnungssysteme und Stadtmodelle offen gelegt. Die Kolorierung bewirkt eine Verfremdung der Stadt-Zeichnung und lässt Muster und Formationen zum Vorschein kommen.

 

Während die beiden im Querformat gezeigten Stadtzeichnungen von Barcelona und Chicago durch die linearen Rastersysteme sehr grafisch und streng wirken, so lassen hingegen die drei Zeichnungen von Amsterdam, Karlsruhe und dem historischen Olympia fast schon abstrakte, organische Formen erkennen, die als Vorlage kaum strenge Stadtkarten vermuten lassen. Auch dies ist ein Anliegen der Künstlerin, durch die Veränderungen, so mitunter der Kolorierung, die Stadtpläne – zunächst reine Informationsblätter – in ästhetische Zeichnungen zu verwandeln. Auf diese Weise werden sie für den Betrachter „ansehnlicher“, interessanter gestaltet, wodurch er sich möglicherweise intensiver mit dem eigenen Lebensraum auseinandersetzt. „Jeder Bewohner soll seinen eigenen Wohn- und Lebensraum kritisch hinterfragen und auch gegenüber Veränderungen sensibilisiert sein“, so das Anliegen der Künstlerin.

 

„In einer großen Stadt kennen die Menschen, die auf den Straßen gehen, einander nicht. Wenn sie sich sehen, stellen sie sich tausend Dinge voneinander vor: Begegnungen, die es zwischen ihnen geben könnte, Gespräche, Überraschungen, Liebkosungen, Bisse. Doch niemand grüßt irgendwen, die Blicke kreuzen sich eine Sekunde und weichen dann aus, suchen andere Blicke, bleiben nicht stehen.“ So Italo Calvino in seinem Werk „Die unsichtbaren Städte“ aus dem Jahr 1972 über die Stadt Chloe, die Laquay-IHM mit der Stadtzeichnung von Chicago verbindet.

 

Der Künstlerin dienen zur Herstellung ihrer Stadt-Zeichnungen zum einen originale Stadtpläne, die sie verfremdet, so beispielsweise koloriert, gleichzeitig dient Calvinos Literatur als Grundlage für die Deutung der jeweiligen Stadtansicht. Laquay-IHM ordnet jeder Stadt eine Stadtbeschreibung Calvinos zu, wodurch das Stadtmodell sowie die Stadtbewohner kritisch beleuchtet werden.

 

Calvino selbst wirft bereits 1972 die Frage auf: „Was ist heute für uns die Stadt? Ich glaube, ich habe so etwas wie ein letztes Liebesgedicht an die Stadt geschrieben, in einem Moment, in dem es immer schwieriger wird, sie als Stadt zu erleben.“

 

Die Stadt Eudossia kommentiert der Autor wie folgt: „Auf den ersten Blick scheint nichts weniger Eudossia zu gleichen als die Zeichnung des Teppichs, eine Anordnung symmetrischer Figuren, die an Geraden und Kreisen entlang ihre Motive wiederholen.“ Calvinos Anmerkungen zur Stadt Eudossia verknüpft Laquay-IHM mit der Stadt-Zeichnung Barcelonas. Diese wird charakterisiert durch eine regelmäßige Rasterbebauung, die von drei Seiten die Altstadt umschließt. Das neue Barcelona entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Architekt Ildefonso Cerda berücksichtigte bei der Stadterweiterung das schachbrettartige Modell, vor dem Gedanken der Gleichheit der Menschen. Jeder Stadtbewohner sollte soziale Einrichtungen und Freizeiteinrichtungen erreichen und nutzen können. Kurze Verbindungswege zwischen den Stadtteilen und dem Hafen wurden durch diagonal geführte Straßen ermöglicht. Das soziale Modell des Architekten, das darüber hinaus offene Randbebauungen der Wohnquartiere vorsah; wurde jedoch bald von Bodenspekulanten und Bauträgern gestört, die soziale Einrichtungen auflösten.

 

Solche Eingriffe des Menschen prägen das Bild einer Stadt. Aber auch bereits die Anlage von barocken Gärten, wie sie von Laquay-IHM im Triptychon „Blaue Gärten – Eingriffe in Eingriffe“ von 1994 gezeigt werden, stellen künstliche Anlagen, d. h. Eingriffe in die Natur dar. Im Barock erreichen die geometrisch angelegten, prachtvoll gestalteten Gärten ihren Höhepunkt und dienen primär Repräsentationszwecken. In seiner Vollkommenheit ist der barocke Garten Ausdruck des königlichen Absolutismus, wobei die Natur dem Willen des Gestalters untergeordnet wird.

 

Als Schutzmantel erhalten die kolorierten Pläne der Gärten von der Künstlerin blaue Plastikfolien, die in Form einer künstlichen Zutat als weiterer menschlicher Eingriff gedeutet werden können. Gilt es weitere Eingriffe zu verhindern?

 

Auch in der Werkreihe „Kosmische Architekturen“ wirft Laquay-IHM Fragen auf, die das Eingreifen des Menschen in den Lebensraum, die Konstruktion von Lebensformen betreffen. Die Werkreihe präsentiert Zeichnungen und Collagen, die als .Zukunftsprognosen“ Einblicke in zukünftige Welten gewähren. Die Künstlerin schuf den Zyklus zwischen 1991 und 2004. Die mit Farbstift und Tempera gezeichneten teilweise collagierten Arbeiten zeigen stark geometrisch angelegte und konstruierte Räume, in die teils der Mensch integriert ist. Durch die Farbgebung einzelner Blätter scheinen tatsächlich Zukunftsvisionen dargestellt zu sein. Auch lassen sich Himmelspforten ähnliche Darstellungen erkennen. Historische Gebäudefassaden, ein Tempel ähnliches Gebäude, verorten Architekturen früherer Zeiten im zukünftigen Stadt- und Lebensraum. Wird die Architektur geprägt sein von Wiederholungen vergangener Epochen? Ähnelt die Zukunft einer paradiesischen Anlage, wie sie in der Werkreihe zu sehen ist? Oder aber sind es strenge mathematische Konstruktionen, die den Lebensraum zukünftig bestimmen? Sind detaillierte Berechnungen notwendig, um den menschlichen Lebensraum zu strukturieren und organisieren? – Fragen, die die Zukunft beantworten mag.